Cramer über Hoeneß: "Wir nannten ihn Jung-Siegfried"

München - Uli Hoeneß steht kurz vor seinem 60. Geburtstag. Im tz-Interview erinnert sich sein ehemaliger Trainer Dettmar Cramer an das Ausnahmetalent und plaudert aus dem Nähkästchen.
Herr Cramer, hätten Sie Zeit, über Uli Hoeneß zu reden?
Dettmar Cramer: Über Uli, sehr gerne. Ich kenne ihn doch schon so lange. Seit er 14 ist. Mehr als drei Viertel seines Lebens. Das erste Mal sah ich ihn 1966. In Duisburg.
Und was dachten Sie, als Sie ihn da sahen?
Cramer: Er hat mir imponiert. Es war zwei Wochen nach dem WM-Finale in Wembley, ich war Assistent von Helmut Schön. Ein DFB-Sichtungslehrgang für die Schülernationalmannschaft, die besten Talente aus den einzelnen Bundesländern, einer aber fiel besonders auf. Aus der Württemberg-Auswahl. Ein ungemein kräftiger Bursche mit wehenden blonden Haaren, schnell, stark. Wenn er den Ball hatte, war es kaum möglich, ihn ihm wieder abzunehmen. Das war Uli Hoeneß. Wir nannten ihn Jung-Siegfried. Zielstrebigkeit, Durchsetzungsvermögen, das waren seine Merkmale als Spieler.
Durchsetzen musste er sich auch, als er 1970 zu den Bayern kam. Die aufmüpfige Art des Jünglings kam bei den gestandenen Spielern um Beckenbauer nicht gut an.
Cramer: Das war vor meiner Zeit, noch unter Lattek. Es hat anfangs wohl Spannungen gegeben, ja. Am Anfang war er vielleicht wie ein Junge in der Pubertät, wo im Streit mit dem Vater die Türen knallen. Aber bald sahen alle, dass sie auf ihn nicht verzichten konnten. Er bestimmte das Spiel. Unstoppbar, unbremsbar. Spätestens 1974, Europapokal-Finale gegen Atletico Madrid. Das Wiederholungsspiel, 4:0: zwei Tore Hoeneß, die anderen beiden natürlich Gerd Müller, wer sonst. Als ich 1975 zu Bayern kam, war Hoeneß dann längst das, was ich eine Persönlichkeit nenne.
Was ist für Sie eine Persönlichkeit?
Cramer: „Personare“ kommt aus dem Lateinischen, „hindurchtönen“. Im Theater hielten die Schauspieler früher Masken vor dem Gesicht. Was durch die Maske tönte, war die Persönlichkeit des Schauspielers. Im Fußball haben sie alle den Trainingsanzug an, aber bei vielen tönt nichts hindurch. Bei einigen wenigen schon. Wie bei Uli. Er war ein Individuum. Er war der Klassensprecher.
Der rebellische Jung-Siegfried vom Anfang war zu Ihrer Zeit schon ein alter Leitwolf?
Cramer: Er war eine Führungsfigur. Er war der ältere Bruder von Rummenigge.
Von Rummenigge?
Cramer: Ja. Wenn wir auswärts im Hotel waren, ging ich jeden Abend durch die Zimmer, setzte mich auf die Bettkante und sprach noch einmal mit den Spielern über die Partie am nächsten Tag. Das war ein Ritual. Hoeneß und Rummenigge teilten sich auch ein Zimmer, wenn ich zu denen reinkam, führte immer Hoeneß das Wort, schilderte ihm seine Eindrücke. Seine Erlebnisse, Erfahrungen. Rummenigge hat viel von ihm gelernt. Uli war ein großer Spieler.
Bis zu seiner Knieverletzung, im Meistercup-Endspiel gegen Leeds.
Cramer: Fürchterlich. 28. Mai 1975, ich weiß es wie heute. Stand 0:0, ein Einwurf von Hoeneß, direkt vor unserer Bank,

plötzlich wackelt sein Knie weg. Mannschaftsarzt Spannbauer neben mir, ich sage zu ihm: Doktor, da ist der Meniskus kaputt. Zu Hause in München, erste Diagnose, kein Meniskusschaden. Uli sagt, es geht ihm gut, aber das sagte er immer. Immer hart zu sich selbst. Einmal bin ich Sonntag nach einem Spiel mit ihm in die Klinik. Er hatte einen Bluterguss, da haben die ihm eine dicke Nadel reingejagt ins Knie, bis auch das sämige Blut herauskam. Uli hat nicht gemuckt und nicht gezuckt. Ein harter Junge. Das hätte man dem Jung-Siegfried damals gar nicht zugetraut.
Wie ging es aber 1975 weiter, mit seinem Meniskus?
Cramer: Viele Wochen nach dem Endspiel, vor der neuen Saison, Aufwärmtraining, ein Handballspiel: Hoeneß knickt um, wieder in der Klinik, auf einmal sehen sie, der Meniskus ist schon verfärbt, es war also doch ein Riss, der Riss, er stammte vom 28. Mai.
Ab da ging es abwärts, es gab Comebacks, aber richtig gesund wurde Hoeneß nicht mehr. Bereitete er damals schon alles für die Managerkarriere nach seiner aktiven Zeit vor?
„Die müssen sich doch mal den Frust von der Seele saufen“: Die besten Sprüche von Uli Hoeneß
Cramer: Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte. Wollen Sie sie hören?
Bitte, gerne.
Cramer: Vor einer Saison waren wir an den Wochenenden immer unterwegs. Freitag, Samstag, Sonntag, Freundschaftsspiele bei Amateuren in ganz Bayern. Jeden Tag eines. Unterfranken, Niederbayern und so weiter. Für die war das das Ereignis des Jahres, da war immer volles Haus. Die Abmachung war, Bayern bekommt 80 Prozent der Einnahmen, die Gastgeber 20 Prozent. Jedenfalls fuhren wir immer mit dem Mannschaftsbus dorthin, nur zu Hoeneß sagte ich immer: „Uli, komm doch bitte mit deinem Wagen.“
Hoeneß fuhr alleine mit seinem BMW dahin? Warum denn das?
Cramer: Nach Abpfiff schauten wir immer, zügig fortzukommen. Nur ging es dann ja noch um die Abrechnung. Und die machte Uli. Während wir also längst im Bus auf der Fahrt zurück waren, saß Uli noch vor Ort und regelte die Finanzen. Er, der Spieler. Und es war immer eine ganz saubere Abrechnung, weder den Amateuren noch uns fehlte jemals ein Pfennig. Das nur als Beispiel, wie früh Ulis Geschäftssinn schon zu erkennen war. Der verantwortungsvolle Umgang mit Geld, das hatte er zu Hause bei den Eltern in der Metzgerei gelernt.
Doch genau der Geschäftssinn machte ihn auch zur am meisten polarisierenden Figur im deutschen Fußball. Neider verachteten ihn, weil sie meinten, Hoeneß und die Bayern hätten nur Erfolg, weil Hoeneß ihn sich erkaufen würde.
Uli Hoeneß: Seine explosivsten Attacken
Cramer: Neider. Neider. Ja, er ist auch der Anführer der Attacke, das Explodieren, auch das gehört zu seinem Temperament. Er ist hart, hart geworden. Vergessen Sie nicht: der Flugzeugabsturz 1982, den er als einziger Insasse überlebt hat, das hat ihn auch stark gemacht. Härter zu sich selbst. Und doch, Uli ist so ein herzensguter Mensch, sozial und gebefreudig, was er alles wirklich tut, das weiß keiner, das wissen Sie nicht und ich auch nicht. Uli ist die Fürsorge selbst. Er war ein großartiger Manager, und auch jetzt als Präsident kann er nicht die Finger davon lassen.
Natürlich nicht. Haben Sie sich denn einmal gefragt, wo Bayern ohne Hoeneß heute wäre?
Cramer: Nein, das darf man nicht fragen.
Nicht?
Cramer: Nein. Dann wäre ein anderer gekommen. Müßig, darüber zu reden.
Dann sagen Sie doch bitte noch zum Schluss, ob Sie sich einen FC Bayern ohne Uli Hoeneß vorstellen können.
Cramer: Man muss es sich vorstellen. Es muss auch ohne ihn gehen. Man wird fragen: Aber wird es so gut weitergehen? Und dann muss man antworten: Hoffentlich kommt einer, der es so macht, wie er es gemacht hat! Das ist den Bayern zu wünschen. Bayern wird es auch ohne Uli Hoeneß geben. Das weiß der Uli selbst. Keiner von uns ist gegen das Abtreten gefeit.
Interview: Florian Kinast