Gerd Müller, der tragische Torjäger

Erstmals in seiner hundertjährigen Geschichte hat die Fußball-Fachzeitschrift Kicker den Vortrag einer Volkshochschule (VHS) veröffentlicht, freute sich Claus Lüdenbach, Geschäftsführer der Volkshochschule Erding.
Erding – Aber schließlich ging es ja auch um Gerd Müller, Welt- und Europameister, größter Torjäger aller Zeiten, der seit Jahren schwer erkrankt in einem Pflegeheim lebt.
Dr. Hans Woller war bis zu seiner Pensionierung Chefredakteur am Institut für Zeitgeschichte in München. Er veröffentlichte im Herbst vergangenen Jahres ein Buch über den „Bomber der Nation“ (Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam, C.H. Beck). Allerdings keines, wie, wo und wann er mit links, rechts oder dem Kopf getroffen hat („Was ist daran relevant?“). Sondern eines über den Mann, der „vom Provinzkicker aus ärmlichsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg, reich wurde und dann nach einem Ausflug in das Fußballentwicklungsland Amerika alkoholsüchtig in der Gosse landete“, wie es in der Vorankündigung der VHS stand.

In der Tat wurde Woller dann auch bei seinem Vortrag „Reiz und Tücken einer Fußballer-Biografie“ sehr deutlich: Ein Beispiel: „Der FC Bayern war zwar keine Säufertruppe wie das Team des Lokalrivalen 1860. Starke Trinker und Alkoholiker gab es aber auch hier in großer Zahl.“
Zu sehen und hören war dies dank des digitalen Projekts „vhs.wissen live“. Seit September 2019 – also bereits lange vor der Corona-Pandemie – schickt die VHS Erding in Kooperation mit der Volkshochschule Süd-Ost im Landkreis München Vorträge als Livestream in andere Volkshochschulen oder direkt ins Wohnzimmer. Die Teilnehmer können die Vorträge in Echtzeit mitverfolgen, fragen und mitdiskutieren. „Damit haben wir neue Zielgruppen fernab ihres lokalen Einzugsgebietes erschlossen“, erklärte Lüdenbach.
284 User zugeschaltet
Und so war es: Für Gerd Müller interessieren sich nicht nur Menschen aus München und Erding. Am Ende waren 284 Rechner während des Vortrags zugeschaltet – und damit noch weit mehr Zuschauer und Zuhörer, „denn am Computer sitzt ja oft mehr als eine Person“, so Lüdenbach. Allein sieben seiner Familienangehörigen hätten den Vortrag verfolgt.
Technisch ging das so: Christoph Schulz und Andreas Mayer von der VHS München Südost richteten zwei Kameras auf den Referenten, checkten den Ton und brieften dann die User. „Sie brauchen heute keine Kamera und kein Mikro“, sagte Schulz den Zuhörern. „Sie sollten jetzt mich hören und ein Bild sehen können.“
Geisterspiele und Geistervorträge
Woller war die Situation anfangs nicht ganz geheuer. „Wir haben am Wochenende in der Bundesliga Geisterspiele erlebt, jetzt müssen wir uns auch noch an Geistervorträge gewöhnen“, sagte er. Aber dann legte er los.
Als er vor fünf Jahren mit der Recherche begonnen habe, sei er auf Unverständnis einiger Kollegen gestoßen. Er würde seine Reputation als Historiker aufs Spiel setzen. Von Woller gibt’s Publikationen über Mussolini und den Faschismus, eine Monologie über Italien. Aber wo sei die Relevanz bei einem Fußballspieler?
Quellensuche gestaltete sich schwierig
In seinem Buch gehe es eben nicht nur um den Protagonisten. „Gerd Müller war ein genialer Kicker, der allerdings nicht losgelöst war von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen, in denen er seinen Sport betrieb. Fußball ist damit auch ein Stück Zeitgeschichte – und als solches muss er auch behandelt werden.“ Der Historiker verknüpfte Müllers Biografie (siehe unten) mit der Geschichte des deutschen Fußballs im Übergang vom Amateurkick zum Profitum und griff die Verbindungen von Fußball und Politik auf.
Es sei schwer gewesen, an Quellen zu kommen, weil Vereine in der Regel keine richtigen Archive haben und es kaum Nachlässe von Fußballern gebe. Die Finanzbehörden rückten keine Dokumente raus, Zeitungsartikel seien oft stark gefärbt, weil auch Sportjournalisten teil des Systems seien. „Was soll man beispielsweise von den Spiel- und Hintergrundberichten eines Reporters erwarten, der mit dem Vereinspräsidenten in Urlaub fuhr, ein günstiges Darlehen von seinem Verein erhalten hat oder elbst in der Führungsriege eines Vereins saß?“
Woller hat 60 Interviews geführt
Woller selbst habe 60 Interviews geführt – mit Mitspielern, Journalisten, Beamten und mit Müllers Familienangehörigen. Stundenlang sei er zum Beispiel mit Müllers Ehefrau zusammengesessen, die „beinahe täglich und über viele Stunden ihren schwerkranken Mann in einem hochprofessionell geführten Pflegeheim“ besuche. Auch er selbst sei mit Gerd Müller zusammengekommen, erzählte Woller. Aber aufgrund dessen Gesundheitszustands sei ein Gespräch mit ihm leider nicht möglich gewesen.
Der Historiker sagte dies tief ergriffen. Er sieht in dem Bayern-Stürmer jemanden, der nicht gemacht war für die große Bühne. „Er wollte sich nicht mit Haut und Haaren vermarkten lassen, wie es ein Beckenbauer, ein Hoeneß und ein Breitner meisterhaft verstanden. Müller war in Nördlingen noch im alten Amateurfußball aufgewachsen und hatte dort eine Heimat gefunden. Die ewigen Interviews und Geschäftstermine und die aufgeplusterten Selbstinszenierungen – das alles war in Müllers Augen reine Schaumschlägerei.“ Der Mann aus Nördlingen sei eben kein Entertainer gewesen, der in jede Rolle schlüpfen konnte. „Er wollte es auch nicht.“
CSU erlässt FC Bayern Schulden
Den größeren Teil seines Vortrags widmete Woller der Beziehung zwischen CSU und dem FC Bayern in den 1960er und 70er Jahren. Die Partei habe dem Verein immer wieder seine Steuerschulden erlassen und schließlich von der Vergnügungssteuer befreit – „wohlwissend, dass es sich dabei um eine Lex FC Bayern handelte, die gegen die Bayerische Verfassung verstieß“, so Woller.
Zudem habe es Fördermaßnahmen für Franz Beckenbauer und Gerd Müller gegeben. Treibende Kräfte seien Franz Josef Strauß und der bayerische Finanzminister Ludwig Huber gewesen. Letztere habe 1972 dem abwanderungslustigen Gerd Müller neue Einkommensquellen erschlossen: eine Toto-Lotto-Bezirksstelle und eine Generalagentur der Bayerischen Versicherungskammer.
Die kriminelle Seite des Profifußballs
Vom damaligen Vereinspräsident Willy Neudecker gibt gibt es laut Woller ungedruckte Memoiren. Darin sei ein Dialog enthalten: „Herr Staatsminister, wir können Franz Beckenbauer aus finanziellen Gründen nicht mehr halten, inwieweit können Sie uns helfen“? Der Minister habe darauf geantwortet: „Ihr seid doch Geschäftsleute und werdet Euch doch helfen können. Gebt Franz alles, was er verlangt, aber lasst ihn nur nicht weg aus München. Er ist sowohl für den Verein als auch politisch für das Land Bayern sehr wichtig.“
Woller ist sich allerdings sicher: „Der FC Bayern war dabei kein Einzelfall. Es gibt zwar keine Studien über andere Vereine, die Vergleiche und gesicherte Aussagen ermöglichten. Alle Indizien sprächen aber für die These, dass der Profifußball von Beginn an diese kriminelle Seite hatte: Wer konkurrenzfähig bleiben und Erfolge erzielen wollte, musste illegale Wege beschreiten.“
Im Chat wurde eifrig diskutiert. Ein User ärgerte sich über die Bezeichnung „Gosse“. Dem Vernehmen nach soll er einer jener Freunde gewesen sein, die Müller nach dessen Zeit in den USA geholfen haben. Woller ging noch einmal auf Müllers „immenses Alkoholprobem“ ein. „Ein, zwei Jahre lang bestimmte der Alkohol seinen Tagesryhthmus. Er hatte kaum mehr Geld, war angewiesen auf die Hilfe von zwei, drei Leuten, seine Leber war kaum mehr funktionsfähig.“
Keine Reaktion vom FCB nach der Buch-Veröffentlichung
Keine Antwort hatte Woller auf die Frage eines Zuhörers, ob es eine Verbindung zwischen den Hilfen von damals und den Machenschaften von 2006 gebe. Woller: „Mein Buch dreht sich in erster Linie um Gerd Müller. Franz Beckenbauer – das sind ganz andere Dimensionen. Alles andere würde meine Kompetenzen bei Weitem überschreiten. Da fehlt mir auch der Zugang zu den Dokumenten.“
Bleibt noch die Frage eines Users, warum die CSU die Nähe zum FC Bayern gesucht hat und nicht zum TSV 1860. Woller drehte die Perspektive. Anfangs habe der FCB mit der roten Münchner Stadtspitze geflirtet. Präsident Neudecker war sogar SPD-Mitglied. „Als er aber gemerkt hat, dass er in München immer die zweite Geige spielen wird“, habe sich Neudecker an die Staatsregierung gewandt – und auch das Parteibuch gewechselt.
Vom FC Bayern sei übrigens keine Reaktion nach der Buch-Veröffentlichung gekommen, sagte Woller. „Warum auch? Es stimmt ja alles, was ich darin berichte.“ Eine Anfrage der Heimatzeitung bei der FCB-Pressestelle blieb gestern unbeantwortet. Selbst kickte Woller übrigens beim niederbayerischen FC Aldersbach. „Wir waren in der zweitniedrigsten Liga“, sagt er und fügt schmunzelnd hinzu, „Solange ich da gespielt habe, sind wir nie abgestiegen“. Sein Lieblingsverein? „Ich trinke in der Früh den Tee aus meiner Bayern-Tasse.“
„Müller war vielleicht ungeschickt, aber authentisch“
Woller über den Typ Müller: „Warum ist uns Gerd Müller als Referenzgröße so nahe und präsent? Nur wegen seiner Rekorde? Da steckt mehr dahinter. (...) Er war keine dieser Kunstfiguren von heute. Müller stand für Authentitiät. Er war ein enormer Kerl. Wenn heute Fußballer etwas sagen, dann klingt das eleganter, ist im Kern aber belanglos. Müller war vielleicht ungeschickt, aber authentisch.“
Müllers Fußballzeit beim FC Bayern fasst Woller so zusammen: „Er entfremdete sich seiner Familie und seiner alten Heimat, wurde aber auch in seiner neuen Heimat nicht froh; der Anpassungsstress war zu groß für ihn. Trotz seines Weltruhms blieb er in München und gerade in der dortigen Schickeria ein Außenseiter. Die Schönen und die Reichen schmückten sich zeitweise mit dem exotischen ,Bomber der Nation‘; sie verspotteten ihn aber zugleich – wegen seines Dialekts, wegen seiner lückenhaften Bildung und seiner sonstigen Defizite, die mit seiner Herkunft aus den allerärmlichsten Verhältnissen zu tun hatten. So ähnlich erging es ihm auch beim FC Bayern München, wo ab 1970 einige selbstbewusste und arrogante Abiturienten das Klima bestimmten. Auch hier gehörte Müller nicht wirklich dazu, weil er sich auf der großen Bühne schwerer tat als andere und weil ihm die große Bühne im Laufe der Zeit überhaupt immer unheimlicher wurde.“
Über die Hilfe der Bayern-Führung in den 1990ern: „Der Verein wusste, dass Müller krank war. Man hat sich lange Zeit gelassen, weil es auch im Verein viel zu tun gab. Aber dann hat der FC Bayern souverän und weitsichtig reagiert. Natürlich hätte man sich anderes auch vom Image her nicht leisten können. Aber ich habe auch von niemanden gehört, dass er Gerd Müller je im Stich lassen würde.“
Über die Patriarchen in der frühen Bundesliga-Zeit: „Fußball war in der Ära Müller und Beckenbauer reine Männersache. Die Männer, die diese Geschlechterdomäne verteidigten, waren allerdings nur auf dem Platz und im reichlich genossenen Umgang mit Groupies richtige Männer, zumindest stilisierten sie sich dazu. Nach dem Spiel mussten sie kuschen, weil es beim FC Bayern wie in fast allen Vereinen einen meist im Dritten Reich sozialisierten Patriarchen gab, der mit zwei, drei ähnlich gestrickten Helfern ein autoritäres Regime führte.“
Über Missbrauch von Arzneien: „Im Fußball war die blinde Vertrauensseligkeit in die Autorität der Ärzte besonders ausgeprägt, und hier war auch die Bereitschaft der Ärzte, des Guten viel zu viel zu tun, kaum begrenzt. Im Gegenteil: Die Spieler wollten fit sein und trieben deshalb Raubbau mit ihrem Körper, und die Vereinsführungen bedrängten die Ärzte, alles einzusetzen, um die Heilung verletzter Spieler zu beschleunigen. Die Folge war (...) ein unvorstellbarer Missbrauch von legalen Stoffen wie Cortison, das als Allheilmittel angesehen und bei Verletzungen aller Art gespritzt wurde.“
Über den Missbrauch leistungssteigernden Substanzen: Die Rede ist von Pervitin, Captagon, Anabolika und Amphetamincocktails, die nach Aussage der beteiligten Spieler die Ausdauer erhöhten, das Schmerzempfinden reduzierten, das Bewusstsein leicht trübten, aber auch Auswirkungen auf das Sexualleben hatten.
Über Alkohol: „Alle Trainer, die Gerd Müller bei den Bayern hatte, waren starke Trinker, zwei von sechs sogar echte Alkoholiker.“
Zur Frage, ob es vergleichbare Strukturen im Verhältnis Politik und Fußball in anderen Ländern gibt: „Die Geschichtsschreibung zum Fußball steht erst in den Anfängen. Mich würde es brennend interessieren, wie es zum Beispiel bei Real Madrid und Juventus ist. Aber der Blick bleibt uns verschlossen, solange es keine Historiker gibt, die mit Scheinwerfer in die Vereinsgeschichte reinleuchten.“
Dieter Priglmeir