Golden-Boy-Erfinder schwärmt vor Wahl von Musiala: „Wie die Mona Lisa“

Am 4. Dezember wird der prestigeträchtige Golden-Boy-Award in Turin vergeben. Zu den Favoriten zählen Bayern-Star Jamal Musiala und Reals Jude Bellingham.
München - Gold für Bayerns Goldjungen? Seit 2003 kürt die italienische Sportzeitung Tuttosport den besten U21-Spieler Europas. Die Top-Favoriten auf den begehrten Golden-Boy-Award, der im Dezember in Turin vergeben wird, sind Real-Neuzugang Jude Bellingham (20) und Jamal Musiala (20) vom deutschen Rekordmeister. Das tz-Interview mit Golden-Boy-Erfinder Massimo Franchi (66).
2003 haben Sie den Golden Boy ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?
Massimo Franchi: Eines Nachmittags im Herbst hat mich der Direktor von Tuttosport in sein Büro gerufen. Er sagte mir, der Eigentümer habe etwas Geld für einen internationalen Preis übrig. Die erste Idee, die ich sofort hatte, war, so etwas wie den Ballon D‘Or zu schaffen – aber für U21-Spieler aus den europäischen Top-Ligen.
Wie wird gewählt?
Ganz einfach: Im Juni wurde von Tuttosport eine Liste mit 100 Spielern veröffentlicht. Diese Liste wird monatlich um 20 Akteure reduziert, bis Mitte Oktober schließlich eine Top-20 übrigbleibt. Die Liste richtet sich in diesem Jahr zum ersten Mal nach dem computergesteuerten Golden Boy Index, den wir mit dem Datendienstleister Football Benchmark zusammen erstellt haben. Zudem vergebe ich noch fünf Wild Cards an Juwele, wie beispielsweise Lamine Yamal vom FC Barcelona. Anschließend vergibt eine Jury aus 50 Journalisten, die Creme de la Creme, an fünf Spieler ihrer Wahl Punkte.
Wer führt aktuell den Golden Boy Index an?
Als wir im Juni die Liste veröffentlicht haben, war laut Algorithmus Jamal Musiala auf Platz eins und Jude Bellingham Zweiter. Im Juli das gleiche Ergebnis. Im August wurde Musiala dann von Bellingham eingeholt. Es ist unfassbar, was der ehemalige Dortmund-Spieler seit seinem Wechsel zu Real Madrid bisher geleistet hat. Momentan wirkt es so, als ob Carlo Ancelotti nach dem Wechsel von Ballon D’Or-Gewinner Karim Benzema keinen Superstürmer brauche. Bellingham spielt unter ihm offensiver als Musiala bei Thomas Tuchel – und er trifft und trifft und trifft.

Hinzu kommt, dass Musiala dem FC Bayern im September mehrere Wochen verletzt gefehlt hat.
Das war natürlich bitter. Musiala ist ein fantastischer Spieler. Er hätte sich durch sein entscheidendes Meister-Tor in der letzten Spielzeit eigentlich eine kleine Statue verdient. Aber im ersten Teil der aktuellen Saison konnte er seine Genialität nicht so ausspielen, er war nicht so eine stark scheinende Sonne, die dich mit ihrem Licht blind machen kann. Bayern war Meister, Borussia Dortmund nur Zweiter: Absolut korrekt, dass Jamal zum Start des Golden-Boy-Rennen im Juni vorne war. Doch dann wechselte der „Fahrer“ Bellingham – um im Formel-1-Jargon zu sprechen – zur „Scuderia“ Real Madrid, wo er gezaubert hat und noch immer Magisches vollbringt. Jamal muss also etwas Außergewöhnliches – eventuell auch in der deutschen Nationalmannschaft – zeigen, um Bellingham auf der Zielgeraden noch zu schnappen.
Ich liebe Musiala! Ich liebe seinen kreativen Spielstil.
Wie finden Sie Musiala?
Ich liebe ihn! Ich liebe seinen kreativen Spielstil. Ich liebe diesen jungen Mann wirklich. Dass sich der FC Bayern ihn beinahe kostenlos vom FC Chelsea geangelt hat, war wahnsinnig clever. Ein unglaublicher Verlust für die Londoner. Das wäre so, als würde das Louvre die Mona Lisa verlieren…
Das müssen Sie bitte erklären.
Es gibt keinen Wert für Leonardo da Vincis Meisterwerk Mona Lisa. Es steht nicht zum Verkauf – für keine Summe der Welt. Man könnte alle Bilder des Louvre verkaufen. Aber solange man noch Mona Lisa hat, ist dieses Museum trotzdem noch unfassbar viel Wert. Chelsea hatte einen Diamanten. Musiala gehen zu lassen, war ein riesiger Fehler. Wenn man so ein Juwel hat, muss man es mit aller Macht schützen.
Klingt nach unglaublicher Wertschätzung, die Sie ihm gegenüber empfinden.
So ist es. Was passend ist: Jamal bedeutet auf Arabisch Schönheit. Er ist ein wunderschöner Spieler. Ich liebe ihn, auch wenn ich glaube, dass er in diesem Jahr am Ende nur Zweiter wird.

Und Bellingham?
Auch wenn ich kein Stimmrecht habe: Er ist mein Favorit auf den Golden Boy Award. Beide haben ihre Karrieren quasi zeitgleich begonnen, sind nahezu auf demselben Level. Sie ähneln sich sehr, haben je einen explosiven Mix aus den unterschiedlichen Ländern ihrer Eltern. Das ist die beste Mischung, die man haben kann. Sie vereinen das Beste aus mehreren Welten. Super Spieler, sie sind hochbegabt. Es tut mir fast leid, dass beide miteinander konkurrieren müssen. Ähnlich wie Cristiano Ronaldo und Lionel Messi, die den Ballon D’Or jeweils mehrere Male gewonnen haben. Es ist das dritte Jahr in Folge, dass Musiala und Bellingham auf der Golden-Boy-Liste sind. Die letzte Chance, dass sie den Award gewinnen können.
Einer wird enttäuscht sein.
Natürlich. Aber falls Jamal nicht Erster werden sollte, werde ich ihm sagen: „Es ist kein Drama. Denk an Cristiano Ronaldo. Er hat den Golden Boy nie gewonnen. Schau, wo er jetzt ist, welch gigantische Karriere er hingelegt hat.“ Er muss ihn sich als Inspiration nehmen.
Wie meinen Sie das konkret?
Ich kenne Ronaldo. Er tut alles für Erfolg. Eine kleine Anekdote: Ich war auf der Hochzeit seines damaligen Beraters Jorge Mendes. Ronaldo war auch da. Auf dieser großen Partie wurden keine Wünsche offengelassen: Es gab Kaviar, Luxus-Krabben, die teuersten Champagner und Weine – einfach alles. Ronaldo hat nur stilles Wasser getrunken, und eine Cola während des opulenten Mahls. Als der finale Champagner für das letzte Prosit auf das frisch vermählte Paar eingeschenkt wurde, kostete er den edlen Rosé nur mit den Lippen und stellte das Glas dann weg. Es war ein wahnsinnig deliziöser Tropfen. Aber er nahm nicht mal einen Schluck davon. Das nenne ich eine eiserne Einstellung.
Wer ist aus Ihrer Sicht ein Geheimtipp auf den Titel?
Die größte Überraschung könnte – wie bereits erwähnt – Lamine Yamal werden. Er ist unglaublich, erst 16 Jahre alt, geboren 2007! Er ist ein regelmäßiger Starter beim FC Barcelona und spielt sogar bei der spanischen A-Nationalmannschaft. Er hat Rekorde von Pedri, Gavi oder Ansu Fati gebrochen.

In der Vergangenheit gab es Spieler, die den Golden Boy souverän gewonnen haben, aber danach keine große Karriere hinlegen konnten.
Wenn man mit 16 Jahren richtig gut ist, bedeutet das nicht, dass man mit 23 noch immer zu den Weltbesten zählt. Ich erinnere mich beispielsweise an Anderson, Alexandre Pato oder Mario Balotelli. Auch Matthijs de Ligt gewann die Wahl 2018 als erster Verteidiger überhaupt – und zwar mit Riesenvorsprung auf den Zweiten.
Danach wechselte er von Ajax Amsterdam zu Juventus Turin und später zum FC Bayern. Kein schlechter Karriere-Weg.
Korrekt. Aber der de Ligt von Juventus Turin war nur ein Schatten des de Ligts von Ajax Amsterdam. Auch beim FC Bayern würde ich ihn eher als normalen Spieler sehen, bei der niederländischen Nationalmannschaft ist aktuell ebenfalls Ersatz. Als er 2018 den Golden Boy gewann, war er der Wahnsinn! Mino Raiola, sein mittlerweile leider verstorbener Berater, sagte mir: „Massimo, dieser Spieler ist eine Mischung aus Franz Beckenbauer und Sergio Ramos. Du kannst mich so zitieren.“ Wer Raiola kennt, weiß, dass er gerne etwas übertrieben hat. Aber auch niederländische Journalisten haben mir damals erzählt, de Ligt sei viel besser als van Dijk. Aber inzwischen ist van Dijk – überspitzt ausgedrückt - auf einem anderen Planeten – und de Ligt ist auf der Bank auf unserer Erde.
Welche Zukunftspläne haben Sie mit dem Golden Boy Award?
Ich war vor Kurzem in Sarajevo. Dort haben mir einflussreiche Leute erzählt, dass sie gerne eine Art Golden Boy für Spieler aus dem Balkan organisieren würden, an dem nicht nur U21-Spieler aus dem ehemaligen Jugoslawien teilnehmen würden, sondern auch Talente aus der Türkei, Griechenland, Albanien, Rumänien und Bulgarien. Ich halte das für eine gute Idee, vielleicht eine Art zonale Qualifikationsphase für den Golden Boy Award. Denn beim traditionellen Golden Boy haben bisher nur aufstrebende Fußballer aus den Top-Ligen gewonnen. Interview: Philipp Kessler