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„Dachte, es kommen gleich Leute rein und erschießen uns“: Beklemmende Erinnerungen an den BVB-Anschlag

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Von: Günter Klein

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Der Anschlag auf den BVB-Bus erschütterte die Fußball-Welt. Eine Sky-Dokumentation wagt den Rückblick und spricht mit Betroffenen von Borussia Dortmund.

München – Borussia Dortmund, das am Samstag beim FC Bayern antritt, hat dieses Jahr eine realistische Chance, Deutscher Meister zu werden. Dass der BVB die Münchner lange nicht fordern konnte, lag an sportlichen und konzeptionellen Fehlern, die die Westfalen begingen – und einmal, 2017, spielte auch ein äußerer Umstand eine Rolle.

Der Anschlag - Angriff auf den BVB
TV-Dokumentation
Dauer: 90 Minuten
Erscheinungsdatum: 10. April 2023
Anbieter: Sky, WOW

„Der Anschlag - Angriff auf den BVB“ läuft ab 10. April auf Sky Crime und im Stream

Mannschaft und Verein wurden erschüttert von einem Akt ohne Beispiel: Auf das Team wurde am 11. April 2017 ein Sprengstoffattentat verübt, als es im Bus vom Hotel L’Arrivée zum Stadion fahren wollte, um im Viertelfinale der Champions League gegen AS Monaco zu spielen. Ab dem 10. April wird dazu auf Sky Crime (und im Streamingdienst WOW) eine packende Dokumentation ausgestrahlt: „Der Anschlag“.

Sechs Jahre ist es bald her, dass der islamistische Terror in Deutschland wieder präsent zu sein schien. Das waren die ersten Gedanken, als die Nachrichten von den Explosionen dreier Sprengsätze an einem Abend, der ein Hochamt des Fußballs werden sollte, die Runde machte.

Nuri Sahin saß im Bus, als der Anschlag auf den Bus von Borussia Dortmund geschah.
Nuri Sahin saß im Bus, als der Anschlag auf den Bus von Borussia Dortmund geschah. © Imago/Nordphoto/Seskim Photo

Anschlag auf Borussia Dortmund am 10. April 2017: Motiv des Täters war Geld

Und die Spuren, die der Täter, Sergej W., gelegt hatte, ließen die Ermittler zunächst auch diesem Verdacht folgen. Es gab ein Bekennerschreiben „im Namen Allahs“ und im Wald beim Teamhotel eine Brandstelle, die vortäuschen sollte, dass mehrere Personen, die aus Belgien stammten, den Anschlag vorbereitet hätten. Doch Sergej W., einer russischen Aussiedlerfamilie entstammend, war Einzeltäter, er arbeitete in einem Energieunternehmen in Baden-Württemberg und hatte die Sprengsätze in seinen Nachtschichten gebaut.

Und er hatte keine ideologischen Motive – er wollte ans große Geld. Der Clou des gut 90-minütigen Films von Christian Twente (Regie) und Markus Brauckmann (Buch) liegt in der Auflösung der Rolle, die Rudolf Scheuchl spielt. Ein BVB-Fan schon älteren Baujahrs, er lebt in Bad Ischl in Österreich, und in den ersten Minuten der Dokumentation fragt man sich, warum die Autoren einen fernen Verehrer des Vereins, der am 11. April 2017 gar nicht in Dortmund war, ausführlich zu Wort kommen lassen.

BVB-Fan führt Ermittler auf den Täter: „Jemand spekuliert, dass der Aktienkurs extrem einbricht“

Er darf erzählen, was Schwarz-Gelb ihm bedeutet. Doch wichtig wird er, weil es ohne seine Aufmerksamkeit schwer geworden wäre, den Fall aufzuklären. Rudolf Scheuchl investiert in Aktien, er hält auch Wertpapiere von Borussia Dortmund, kennt sich mit komplizierteren Börsenprozessen aus – und ihm fiel auf, dass in Frankfurt am Attentatstag eine auffällig hohe Zahl an Put-Optionsscheinen auf die BVB-Aktie gehandelt worden war.

Was heißt: „Jemand hat spekuliert, dass der Aktienkurs extrem und schnell einbricht.“ Der Gewinn hätte das 50-fache des Einsatzes (von 26 000 Euro, das erfuhr man später) betragen können. Scheuchl teilte seine Beobachtung der Polizei in Dortmund und dem BVB mit. So kam man dem Täter auf die Schliche: Er hatte sich im Hotel L’Arrivée einquartiert, von dort (nachvollziehbar über die IP-Adresse) die Aktienorder getätigt.

„Der Anschlag - Angriff auf den BVB“: Täter erhält 14-jährige Haftstrafe

Der Gewinn betrug letztlich nur 3300 Euro, da die Aktie sich kaum bewegte. Gegen 19:15 Uhr detonierte der Sprengsatz im Gebüsch, als der Bus das Hotel-Gelände gerade verlassen hatte. Von den Spielern wurde allein Marc Bartra verletzt, am Handgelenk. Ihn traf mit 175 km/ einer der Metallstifte des Sprengsatzes; ohne das Glück einer Verpuffung wären die Geschosse mit 3000 km/h unterwegs gewesen; es hätte Tote und Schwerverletzte geben können.

Der Attentäter ging nach dem Anschlag im Hotelrestaurant ein Steak essen. Im Prozess sagte er, er habe die Mannschaft nur ein wenig erschrecken wollen. Nicht glaubhaft. Wegen 28-fach versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung wurde er zu 14 Jahren Haft verurteilt. Doch „Der Anschlag“ ist nicht nur ein Kriminalfall, sondern auch eine psychologische Studie: Was macht ein solches Erlebnis mit den Opfern?

„Dachte, es kommen gleich Leute rein und erschießen uns“: Erinnerungen an den BVB-Anschlag

Einige der Spieler von damals erzählen. Für Nuri Sahin bleibt „ein Geruch“ in Erinnerung: „Und ich dachte, es kommen gleich Leute rein und erschießen uns.“ Marc Bartra verspürte „einen heißen Luftzug im Gesicht“, Roman Weidenfeller spürte auch am Tag danach, als das Spiel neu angesetzt wurde, „ein mulmiges Gefühl, da man nicht wusste, wer der Täter ist“.

Der frühere 1860-Kapitän Julian Weigl sagt: „Vergessen ist es nicht. Ich merke, wie es mich aufwühlt und ich mich an vieles erinnern kann.“ Spieler des BVB waren beim Prozess gegen Sergej W. im Saal, Abwehrspieler Matthias Ginter brach in Tränen aus. Nuri Sahin: „Ich hoffe, dass er es bereut und eine zweite Chance im Leben bekommt. Vielleicht ticke ich da anders – aber Rachegefühle, nee.“

BVB verliert darauffolgendes Bundesliga-Spiel – Weidenfeller: „Gefühl, nicht bereit zu sein“

Diskutiert wurde seinerzeit auch über die Gnadenlosigkeit des Fußballgeschäfts und den Druck von allen offiziellen Seiten, dass das Spiel am nächsten Tag stattzufinden habe. Watzke: „Es gab nur diese eine Wahrheit: Wir spielen oder ziehen zurück.“

Dortmund verlor das Spiel mit 2:3. Ob es klug gewesen wäre, nicht anzutreten? Spekulation, denn in diesem Falle hätte die UEFA das Spiel mit 0:3 zugunsten Monacos zu werten. Trotzdem: Weidenfeller „hatte das Gefühl, nicht bereit zu sein. Wir hatten aber die Verpflichtung, dem Terror Einhalt zu gebieten, und wollten Vorbilder sein.“

Dortmund holt DFB-Pokal – Ex-BVB-Verteidiger Bartra: „Das Comeback meines Lebens“

Der BVB gewann einige Wochen danach den DFB-Pokal. Bartra sollte sich später erinnern: „Ich realisierte, dass ich in sechs Wochen vom Krankenhausbett auf das Podium gelangt war. Es war das Comeback meines Lebens.“ Trotzdem war der Club komplett aus der Spur geraten. Durch den Anschlag und seine Aufarbeitung „ist auch zwischen dem Trainer und mir einiges kaputtgegangen, es wäre sonst nicht zur Trennung gekommen“, sagt Aki Watzke. Er entließ Thomas Tuchel nach der Pokalfeier. Jetzt trifft er ihn in der Liga wieder. (Günter Klein)

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