DFB „ignoriert alle Warnsignale“: Professor erforscht alarmierende Zustände im deutschen Fußball

Der DFB steckt in einer Krise, der WM-Auftritt in Katar war eher ernüchternd. Ein Professor forscht zum Fußball in Deutschland - und hat alarmierende Ergebnisse.
München - Dass das Ansehen des Fußballs in Deutschland leidet, weist Professor Harald Lange seit Jahren in Studien nach. Auch zur WM in Katar hat der Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Uni Würzburg geforscht - mit alarmierenden Ergebnissen. Im Interview mit tz-Reporterin Hanna Raif spricht der 54-Jährige über seine Erkenntnisse und appelliert an den DFB.
Herr Lange, täuscht der öffentliche Eindruck - oder ist im deutschen Fußball aktuell wirklich alles schlecht?
Lange: Alles schlecht ist auf keinen Fall. Aber es gibt ein bisschen Sand im Getriebe - und das schon seit Längerem. Die Stimmungslage ist sehr betrübt. Ausgesprochen positiv zu bewerten ist allerdings, dass der Fußball an sich nach wie vor ungebrochene Strahlkraft besitzt. Er hat das Potenzial, die Menschen in seinen Bann zu ziehen, sie zu animieren, Fußball zu spielen, zu schauen, über Fußball zu reden. Aber in den Gesprächen dominiert gerade ein negativer Touch - und zwar dahingehend, dass die Fußball-Bevölkerung, die Menschen an der Basis, unzufrieden sind mit den Entwicklungen in den Führungsetagen insbesondere des deutschen Fußballs.

Besteht die Gefahr, dass die Leidenschaft erlischt?
Lange: Nein. So eine Leidenschaft fällt nicht vom Himmel - und sie geht auch nicht über Nacht verloren. Sie bekommt aber Kratzer. Die Bedeutung des Fußballs schwindet, wird weniger, kann sich aber auch wieder aufbauen. Leider erleben wir seit geraumer Zeit ein Kratzen an dieser Bedeutungsauslegung. Das ist extrem gefährlich. Deshalb ist es wichtig, dass die handelnden Akteure alles unternehmen, um wieder Glaubwürdigkeit, Authentizität, Zuversicht und Vertrauen herzustellen. Das muss jetzt über allem stehen.
Wann hatte diese Leidenschaft ihren Höhepunkt - seit wann also baut sie ab?
Lange: Das Sommermärchen 2006 hat sich insofern positiv ausgewirkt, als dass sich weite Teile der Bevölkerung für den Fußball begeistern konnten. Durch die WM im eigenen Land ist die Fan-Basis wesentlich breiter geworden, das hatte auch enorm viele positive Effekte auf die Bundesliga. Die Entwicklung bis 2014 war begleitet von sportlichem Erfolg, aber ab da fand in der Fan-Gunst ein Abstieg statt. Diejenigen, die nicht so stark gebunden waren, gehen genauso schnell, wie sie gekommen sind. Und man hat sich in der Ausrichtung einfach zu flach aufgestellt. Der „Fanclub Nationalmannschaft“ ist da ein gutes Beispiel. Fans wie Mitglieder zu organisieren und zu verwalten, passt gar nicht zur freiheitsliebenden Fankultur. Und man hat bis heute nicht erkannt, was man umstellen muss, um den harten Kern wieder zurückzugewinnen.
Die WM hat - zumindest rund um das Finale - gezeigt, was möglich wäre
Lange: Das Spiel an sich wirkt ungebrochen, es ist nach wie vor faszinierend. Aber deshalb ist es ja noch verwunderlicher, dass man diesen Pluspunkt nicht für den Verband nutzen kann. Zumal man ja um die Negativspirale und die fehlende Resonanz seit vielen Jahren weiß.
„Es werden alle Warnsignale ignoriert“
Erreicht der Fußball auch noch die jungen Leute - oder sind Videospiele cooler?
Lange: Videospiele mögen die junge Generation auch prägen, aber der Fußball, das einfache Spiel hat nach wie vor seine Wirkung. Damit das so bleibt, bedarf es aber einer kritischen Bilanz, einer Analyse. Hier habe ich aber den Eindruck, dass man alle Warnsignale ignoriert und sich im eigenen Saft eine Zukunft zusammenreimt. Um dann am Ende empört zu sein, wenn sie nicht eintritt. Mit Professionalität hat das nichts zu tun.
Hat der DFB gerade eine historische Chance?
Lange: Die hat er! Es steht alles auf dem Prüfstand, aber man zeigt ja schon jetzt, dass man lieber in alte Muster zurückfällt. Da wird eine Taskforce gegründet - vollkommen egal, was vorher in den Feiertagsreden über Diversität erzählt wurde -, in der einfach fünf Größen der Bundesliga sitzen. Der DFB ist nicht selbstbewusst, obwohl er der Verband von mehr als sieben Millionen Mitgliedern ist - und diesen gegenüber eine Verantwortung hat. Man verschenkt dadurch so viel. Nur zu hoffen, dass die EM 2024 es irgendwie richten wird, ist zu wenig. Denn wir haben ja gesehen, dass nicht mal die WM - bisher immer ein Motor für Fußballbegeisterung - gewirkt hat. Das Turnier in Katar war ein Negativkatalysator.

In anderen Ländern hieß es, die deutschen Fans seien zu kritisch und zu politisch.
Lange: Die Fußball-Basis in Deutschland ist kritisch. Das ist ein großes Pfund! Wir sind keine Nörgler, keine Sofa-Moralisten, im Gegenteil! Hier herrscht eine Wunschvorstellung, dass man einen wertebasierten Fußball hat. Das ist etwas ausgesprochen Positives, weil es anspruchsvoll ist. Es kann genial werden, wenn man es anpackt, sich öffnet, das System durchsichtig macht. Man muss all diejenigen mitnehmen, die Ideen für den Fußball haben. Und es nicht eine PR-Agentur machen lassen. Da aber die Zeit knapp ist, habe ich wenig Hoffnung. Ich erwarte Mitte, Ende Januar irgendeinen PR-Gag, der als neues Programm vorgestellt wird. Das ist das, was man aus den letzten Jahren erwartet - und ich wünsche mir, dass es nicht eintritt.
Fehlende Diversität im Fußball ist das Kernproblem: „Die Frauen sind der große Gewinner“
Herr Lange, warum hat Argentinien gegen Frankreich gewonnen? Waren die Gründe rein fußballerischer Natur? Oder steckte letzten Endes doch mehr dahinter?
Lange: Das sind zwei ebenbürtige Mannschaften, aber das Atmosphärische war das Quäntchen mehr. Da war ein Spirit dabei, der Rückenwind gegeben hat. Genau das hat in Deutschland aus guten Gründen ganz massiv gefehlt. Und man ist nicht in der Lage, eine Strategie zu entwerfen, um das zurückzuholen. Dabei wird es bei der EM enorm wichtig sein. Und es wird nicht einfach nur da sein, weil die EM in Deutschland ist. Dieses Turnier steht auf Messers Schneide, das kann auch nach hinten losgehen - wenn wir weiterhin mit nichtssagenden Lösungsansätzen kommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ruck durch die Fußballbevölkerung geht, ist für mich verschwindend gering.
Stichwort Diversität: Ist es ein Problem, das System nicht zu öffnen?
Lange: Das ist das Kernproblem. Als Beispiel lassen Sie uns die Frauen nehmen: Die Nationalmannschaft der Frauen macht es anders, besser - sie ist der große Gewinner dieser WM in Katar. Das sieht man auch an den TV-Quoten. Es würde sich doch lohnen, da mal zu schauen. Ich denke da etwa an Celia Sasic, die sie in ihren Reihen haben. Und trotzdem leistet es sich das Präsidium, auf diese Expertise zu verzichten. Das ist entweder mutig - oder absolut ignorant. Es geht da leider vielmehr um Macht als um die Lösung sachlicher Problemlagen. Man hat Angst vor der Kompetenz anderer, die man dann einfach nicht ins Spiel lässt. So bleibt man im Machtzirkel, kommt aber nicht vorwärts.
Ist das Problem hierzulande ein reines Nationalmannschaftsproblem - oder leidet auch immer mehr das Interesse an der Bundesliga?
Lange: Das spielt zusammen. Wobei die Nationalmannschaft einfach ein Aushängeschild der negativen Entwicklung ist. Das hatte eine seismografische Funktion, man konnte sehen: Die Begeisterung bröckelt. In der Bundesliga fing es mit der Corona-Pandemie an, als die Bundesliga auch Sonderrechte bekommen hat. Die Manager der DFL haben dann aber ganz anders reagiert. Es gab zwar auch eine Taskforce, diese allerdings beinhaltete 36 Personen aus allen Teilen der Gesellschaft. Das war inhaltlich eine Nebelkerze, aber sie konnte gut ablenken - weil der Eindruck erweckt wurde: Oh! Jetzt werden alle gesellschaftlichen Bereiche gehört.
Die Bundesliga-Stadien sind ja auch gut gefüllt.
Lange: Weil das Interesse immer wieder kam, selbst wenn es mal abgeebbt war. Man erinnere mal an Eintracht Frankfurt - die Begeisterung war gigantisch. Aber die Liebe zum Fußball hat trotzdem Kratzer. Deshalb sind die handelnden Personen gut beraten, in Kommerzentscheidungen vorsichtig vorzugehen. Man sieht ja: Überall wo RB Leipzig hinkommt, ist Kritik da. Das sind sensible Punkte, die man bedenken muss. Man darf dieses Spiel aus Abwendung und Zuwendung nämlich nicht überstrapazieren. Das ist dann irgendwann wie eine Liebe, die aufs Tiefste enttäuscht ist. Die flackert nicht mehr auf.
Interview: Hanna Raif