„Habe mich fast geschämt, bei Union zu sein“ – Deutscher Saint-Gillois-Macher erklärt belgisches Europacup-Wunder
Der belgische Traditionsverein Royale Union Saint-Gilloise stand einst ganz unten. Der deutsche Unternehmer Jürgen Baatzsch brachte die Europa-League-Überraschung wieder nach oben.
Brüssel – Jürgen Baatzsch (60) hat eine beeindruckende Vita. Er arbeitete einst als Stabsunteroffizier bei der Deutschen Luftwaffe. 1983 zog er nach Belgien. 20 Jahre später gründete der Familienvater ein Unternehmen, das sich auf Markenunterhaltungselektronik spezialisiert hatte, mit. Dieses wurde 2011 verkauft. Danach führte Baatzsch Royale Union Saint-Gilloise aus der sportlichen Bedeutungslosigkeit nach oben. Mittlerweile ist der belgische Traditionsklub die große Sensation in der Europa League. Vor dem Viertelfinal-Hinspiel gegen Bayer Leverkusen spricht der Ehrenpräsident, der in Liebenau (Landkreis Nienburg) geboren wurde, im großen tz-Interview.
2012/13 sind Sie bei Royal Union Saint-Gilloise eingestiegen, 2014 wurden Sie Hauptanteilseigner, mittlerweile sind Sie Ehrenpräsident. Wie kam es dazu?
Jürgen Baatzsch: 2003 hatte ich die Firma Redcoon mitgegründet, die 2011 an die MSG Mediamarkt-Gruppe verkauft wurde. Dank der durch den Verkaufserlös verfügbaren Mittel konnte ich Börsengeschafte machen und in diverse Geschäftsbereiche investieren. Der Börsenbroker in Belgien wurde mein Freund. Er ist Ur-Fan von Union und versuchte, mich ständig zu überreden, dass ich zu einem Spiel ins Stadion mitkomme. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich habe mich überreden lassen…
Wie ging es weiter?
Baatzsch: Ich war erschrocken. Die Sponsorenplakate lagen auf dem Boden, das Stadion war in einem desolaten Zustand. Alles war verhunzt. Es wuchsen Bäume auf den Stehtribünen, die Heizung funktionierte nicht und die Verwaltung war in einem ausgedienten hässlichen 40-Fuß-Container, der im Stadion aufgestellt war. Sportlich waren wir in der Abstiegsrunde der Dritten Liga praktisch abgestiegen als Tabellenvorletzter. Aber Dank zweier Insolvenzen in der ersten Liga hatten wir das Glück, zwei weitere Entscheidungsspiele durchführen zu können, die wir dann beide gewinnen konnten, um in der Liga zu bleiben. Ich habe mich dann entschieden, dem Verein mit einem Hauptsponsoring zu helfen. Das waren damals 50 000 Euro. Ein Geschenk für Union. Dann hat man mich gebeten, als Verwaltungsbeirat einzusteigen. Das habe ich gemacht. Mir wurden dann von zwei ehemaligen Union-Präsidenten die Anteile für wenig Geld angeboten. Diese habe ich gekauft. Der Klub hatte damals 600 000 Euro Schulden, ich habe diese auf 200 000 Euro runtergehandelt. Damit habe ich den Verein für einen Euro bekommen und war Hauptanteilseigner. Ich habe mich weiter in den Verein reingearbeitet und den Verein in der Organisation professioneller aufgestellt.
Ich habe mich fast geschämt bei Union zu sein, weil wir so schlecht waren.
Wie ist Ihnen das sportlich gelungen?
Baatzsch: Der Verein war überschuldet und sportlich auf niedrigem Niveau. Ich habe mich fast geschämt bei Union zu sein, weil wir so schlecht waren. Ich habe dann an Stellschrauben gedreht, dann wurde es schnell besser. Der ganze sportliche Stab sowie viele Spieler wurden ausgetauscht und das neue Konzept funktionierte sehr gut, wodurch wir in die Zweite Liga aufgestiegen sind. Auch dank der Ligalizenzen, die nur durch meine finanziellen Garantien erhalten werden konnten. Es ist uns als Aufsteiger gelungen, in die Top-Acht der neu reformierte Zweiten Liga zu kommen. Zehn andere Klubs mussten absteigen, da die Zweite Liga nur aus nur Acht vereinen bestehen sollte, um diese zu mehr Einnahmen aus TV-Geldern zu verhelfen. Was schön ist: Wir haben damals schon die Großen in Belgien ärgern können.
Wie haben Sie es geschafft, medial für Aufmerksamkeit zu sorgen?
Baatzsch: Bei uns wurde jeder Pfennig umgedreht. Extrem viele günstige Mittel waren uns Recht, die neuen Medien wurden forciert, es wurde eine Medienspezialist eingestellt. Zum Beispiel haben wir sogenannte Pom Pom Girls auftreten lassen. Wir waren mehrfach im Barsinghausener Sportcenter im Trainingslager und spielten dann gegen Vereine wie die U23 von Werder Bremen, Borussia Dortmund, Fortuna Düsseldorf sowie die erste Mannschaft vom VfL Bochum oder auch gegen TSV Havelse. Dank extremen Pressesupport und immer größer werdender sportlicher Aufmerksamkeit stieg Union aus der Asche wie ein Phönix.
Es gab auch Gerüchte um eine angebliche Kooperation mit RB Leipzig.
Baatzsch: Das waren Fake News. Die Leipziger, die damals noch in der 3. Liga waren, haben uns eingeladen, ihre Akademie anzuschauen und beim Derby gegen Lokomotive Leipzig dabei zu sein. Das war schon beeindruckend. Mit Gladbach war ich mal in Verhandlungen, waren sehr interessiert, weil sie auch viele Belgier hatten. Sportdirektor Eberl war aber dagegen, er wollte lieber mit Zulte Waregem zusammenarbeiten. Viele haben uns damals unterschätzt.

Damals kannte Union fast niemand.
Baatzsch: Ich kann mich noch gut an eine Situation im Juli 2016 erinnern. Mein Sohn war damals bei einem seiner Kumpels. Als ich dort hinkam, war jemand dort, von dem ich gedacht habe, dass er Basketball-Profi sei. Ich habe ihn darauf angesprochen. Dann meinte er, er spiele Fußball beim 1. FC Köln. Es war Anthony Modeste. (lacht) Daraufhin hat er mit mir ein Video aufgenommen, in dem er sagt, wer er sei und dass er Saint-Gilloise liebe. Das Video halte ich in Ehren.
In Juni 2018 verkauften Sie Ihre Anteile an den englischen Geschäftsmann Tony Bloom, der auch Anteilseigner und Vorstand von Brighton & Hove Albion ist.
Baatzsch: Mein überdimensional hohes finanzielles Investment konnte ich durch den Verkauf fast komplett zurückbekommen. Das war eine große Erleichterung. Wichtig war für mich, dass dieser Traditionsverein in gute Hände übergeben wird. Tony Bloom hat mit seiner revolutionären Scoutingmethode durch Big Data und seinen enormen finanziellen Möglichkeiten schon 2020 geschafft, nach der in die Erste Liga aufzusteigen. Man verlor 2019 noch unglücklich durch zwei Abseits-Fehlentscheidungen das Landespokal-Halbfinale. Im Viertelfinale gewann man 3:0 beim Erzrivalen Anderlecht, der sportlich gedemütigt wurde. Daran erinnere ich mich noch gut: Deren Investor und Milliardär Marc Coucke bekam einen immer längeren Hals und konnte sein Unglück nicht begreifen. Union freute sich so sehr. Das kann man sich nicht mal im Traum vorstellen.

So tickt Baatzsch-Nachfolger Tony „The Lizard“ Bloom
Wie tickt Ihr Nachfolger?
Baatzsch: Er ist jüdische Abstammung und hat sein Geld vor allem als Pokerprofi unter dem Spitznamen „The Lizard“ und mit Sportwetten gemacht. Als sechsfacher Milliardär ist er in seiner eigenen Welt, sehr unzugänglich. Es war deutlich zu spüren, dass Union für ihn ein neues Finanzobjekt war, anders als bei mir. Er ließ heimlich nach einem Presseshooting den Union-Schal fallen und hob diesen nicht auf, weil ihn das nicht interessierte. Er wollte eigentlich bei Lierse einsteigen. Aber mittlerweile gilt offenbar auch bei ihm: einmal Union, immer Union. Er freute sich gegen Union Berlin nach jedem unserer drei Tore wie ein kleines Kind und tanzte vor Freude auf seinem Platz. Der Union-Geist hatte ihn anscheinend endlich eingenommen und man spürte die Begeisterung. Oder war es doch nur ein Tanz für die hohen Geldprämien der Uefa? Was Bloom und sein Team machen, ist trotzdem toll.
Ex-1860-Stürmer Grimaldi sagte uns einst ab
Für kurze Zeit waren Sie nach dem Verkauf CEO.
Baatzsch: Übergangsweise habe ich als Sportdirektor ausgeholfen. Das war schon interessant. Ich habe Spieler aus Mexiko, Südamerika und Norwegen gesucht. Aber viele Spieler wollten gar nicht zu uns, unter anderem wegen der Infrastruktur. Wir hatten auch versucht, deutsche Spieler zu bekommen. Zum Beispiel war ich an Ex-1860-Stürmer Adriano Grimaldi dran. Aber die Spieler wollten damals zwischen 16 und 18 000 Euro pro Monat bekommen, das Dreifache, was wir zahlen konnten. Überzeugen kann ich im geschäftlichen Bereich ganz gut. Aber im Fußball funktioniert das anders…
Trotzdem gelang und gelingt es Union immer wieder, neue Juwele für gutes Geld zu bekommen. Wie?
Baatzsch: Union hat immer noch ein kleines Budget. Standard Lüttich und RSC Anderlecht haben ungefähr 50 Mio. Euro zu Verfügung, Union 20 bis 25 Mio. Mit viel Geld kann man natürlich immer noch bessere Spieler holen, aber wir sind eben kreativer. Unser Scouting ist ausgezeichnet. Wir haben drei Scouts und arbeiten mit der Firma Starlizard aus London zusammen. Die haben mit Ausnahme von Afrika weltweit Scouts und arbeiten mathematisch bzw. datenbasiert. Ich möchte dazu keine Betriebsgeheimnisse erzählen. Aber unser Beispiel zeigt: Es braucht keine Unsummen für Top-Transfers, es helfen auch mathematische Formeln. Ein gutes Beispiel dafür ist der Deutsch-Türke Denis Undav, der Torschützenkönig der belgischen Liga aus dem Vorjahr. Er wurde ablösefrei aus der Dritten Deutschen Liga verpflichtet und 2022 für sage und schreibe sieben Millionen Euro an Brighton verkauft. Angreifer Dante Vanzeir wurde im Januar für fünf Millionen nach New York verkauft. Das zeigt auf welchem Level sich das Konzept befindet. Das war keine Ausnahme und wird auch keine bleiben.
Würden Sie den sportlichen Aufstieg von Union als Fußballmärchen bezeichnen?
Baatzsch: 2018 wurde ein Korruptionsskandal in Belgien öffentlich. Es ging um korrupte Sportdirektoren und zwei große Spielervermittler. Die Sportdirektoren kauften beispielsweise Spieler, die sie gar nicht brauchten, und haben dafür privat Geld von den Spielervermittlern bekommen. Bei Union ist es nicht so. Wir machen da nicht mit. Wir holen Spieler, weil sie gute Statistiken haben. Zum Beispiel Victor Boniface. Er ist im vergangenen Sommer für zwei Mio. Euro Ablöse gekommen. Mittlerweile ist er zehn bis 15 Mio. wert. Es ist wirklich toll, wenn man unseren Erfolg sieht.
Das zeichnet Saint-Gilloise derzeit aus
Was zeichnet die aktuelle Mannschaft aus?
Baatzsch: Wir haben sehr gute Einzelspieler, die nicht bekannt sind. Siehe Stürmer Boniface. Aber auch unser luxemburgischer Nationaltorwart Anthony Moris ist erste Klasse. Unser Innenverteidiger Christian Burgess ist auch sehr gut. Siebe Van der Hayden ist kürzlich belgischer Nationalspieler geworden. Teddy Teuma aus Malta ist auch supergut, er ist der Dirigent der Mannschaft. Brighton-Leihspieler Simon Adringa ist der neue Shootingstar. Im Moment passt einfach alles.
Was trauen Sie dem Team im Europa-League-Viertelfinale gegen Leverkusen zu?
Baatzsch: Es wird haarig. Leverkusen ist Favorit. Aber bei Union kann alles passieren. Gegen Union Berlin hätten wir im Achtelfinal-Rückspiel auch 5:0 gewinnen können. Das zeigt, wie gut unsere Mannschaft ist, auch unsere unbekannte Ersatzbank. Aber am meisten überrascht hat mich Trainer Karel Geraerts. Bevor er die Mannschaft als Chef übernommen hat, war er unser Co-Trainer. Ich habe mich damals über diese Entscheidung sehr gewundert. Aber wir haben alles richtig gemacht mit ihm.
Gegen Leverkusen muss Union in den Lotto Park von RSC Anderlecht ausweichen, weil das eigene Stadion nicht die Auflagen erfüllt.
Baatzsch: Das ist ein riesiges Problem. Wir sind tatsächlich der einzig verbliebene Europa-League-Verein ohne richtige Heimat. Das ist ein bisschen beschämend. Unser Stadion gehört der belgischen Königsstiftung. Es ist denkmalgeschützt, wir dürfen da nichts machen. Das Stadion reicht nicht für den modernen Fußball. Bloom ist bereit, 70 Mio. Euro hinzulegen für eine neue Heimstätte. Er hat ein ganz tolles Konzept dafür und der Gemeinde Forest ein Angebot in Höhe von 3,5 Mio. Euro für das Grundstück im Brüsseler Westen gemacht. Aber in der Politik passiert nichts, jetzt müssen wir wohl bis zu den Wahlen 2024 warten und versuchen, dann eine Baugenehmigung zu bekommen.
Was machen Sie eigentlich aktuell?
Baatzsch: Ich bin Vizepräsident von Siebtliga-Klub Royal Racing Waterloo, der gemeinnützig ist. Ich versuche dort gerade zu strukturieren. Wir haben inzwischen 25 Jugendmannschaften. Unsere Firma heißt EDE Group GmbH in Aschaffenburg. Wir haben uns auf den internationalen Handel von Markenunterhaltungselektronik spezialisiert. Zudem sind wir im Handel von LED-Beleuchtung aktiv. Außerdem investiere ich in Immobilien und agiere an der Börse. Und privat ist meine Frau gerade schwanger, wir erwarten unser sechstes Kind. Mir wird also nicht langweilig - und wenn ich noch Freizeit habe, mache ich Leichtathletik. Ich liebe Fünfkampf. Interview: Philipp Kessler