Muss sich der DFB jetzt neu erfinden? Das sagt Stefan Kuntz im Interview dazu

Nach dem Russland-Debakel kann es mit der Nationalmannschaft so nicht mehr weitergehen. Was muss sich ändern? U 21-Trainer Stefan Kuntz analysiert im tz-Interview die Lage.
Mit der U 21 holte Stefan Kuntz vor zwei Jahren noch den Europameister-Titel. Nach dem Vorrunden-Aus der A-Mannschaft in Russland wird das DFB-System hinterfragt – auch im Nachwuchs-Bereich. Die tz fragt Kuntz: Muss sich der DFB jetzt neu erfinden?
Herr Kuntz, Sie haben zuletzt angemahnt, dass Deutschland ein Nachwuchsproblem habe. Inwiefern hängt das Vorrunden-Aus damit zusammen?
Kuntz: Das in direkten Zusammenhang zu setzen, ist weit hergeholt. Vor einem Jahr wurden wir aufgrund des Confed-Cup-Sieges und des U 21-EM-Titels noch für unsere Nachwuchsarbeit gelobt. Fakt ist, dass wir beim DFB schon seit einiger Zeit Probleme anmahnen und diese auch schon aktiv angehen. Das ist allerdings ein langer Prozess, in dem viele verschieden Parteien eingebunden werden müssen.
Es wird stets von Problemen wie fehlenden Eins-gegen-Eins-Spielern, Typen und Führungsspielern gesprochen. Wie kann man solche Persönlichkeiten im Nachwuchsbereich formen?
Kuntz: Das ist nicht mit dem Nachjustieren einer einzelnen Schraube getan. Zunächst muss man zwischen Eins-gegen-Eins-Spielern und Führungsspielern unterscheiden. Zum Thema Eins-gegen-Eins-Spieler: Es ist nicht so, dass wir keine Eins-gegen-Eins-Spieler hätten. Draxler, Brandt, Sane, Gnabry sind nur einige Beispiele auf höchstem Niveau. Vor einigen Jahren wurden die Inhalte der Ausbildung etwas mehr ins technisch-taktische verschoben. Das hat uns einen enormen Entwicklungsschub gegeben, der sich 2014 bei der WM ausgezahlt hat. Dabei sind allerdings andere Aspekte wie das Eins-gegen-Eins und andere Basics etwas in den Hintergrund gerückt. Dies wurde bereits erkannt. Das nun wiederum zu ändern, dauert allerdings seine Zeit.
Und wie sieht es mit Führungsspielern aus?
Kuntz: Das ist ein abendfüllendes Thema, dem wir uns schon seit längerem widmen. Hier spielen der Gesellschaftswandel und das Gesamtsystem Fußball eine entscheidende Rolle. Den jungen Spielern wird heute sehr viel abgenommen. Das ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern als Feststellung. Dadurch fehlen ihnen teilweise Konflikte und dementsprechende Lösungen sowie eine gewisse Konfliktbereitschaft mit der Absicht, etwas zu verbessern.
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Was meinen Sie konkret damit, wenn Sie von einem „Systemproblem“ sprechen?
Kuntz: Wir haben durch einige wichtige Entscheidungen um die Jahrtausendwende (NLZ, Talentförderprogramm, Aufwertung der U-Nationalmannschaften) in Deutschland ein gutes Nachwuchssystem geschaffen. Im Laufe der Jahre sind hier Folgeentwicklungen entstanden, das System hat dadurch Schwächen bekommen. Es sind mehr Beteiligte mit unterschiedlichen Interessen involviert, auch wirtschaftlicher Natur. Dazu haben andere Nationen vieles aus unserem System kopiert, teilweise die Schwächen erkannt und sich gegen diese gewappnet.
Inwieweit hilft das Vorrunden-Aus, dieses Systemproblem zu beheben? Muss der DFB sein komplettes System hinterfragen?
Kuntz: Hier ist nicht nur der DFB gefordert. Der DFB ist eine Institution von vielen, die beteiligt sind. Es ist eine Kombination aus der Arbeit von Verbänden, Vereinen, aber auch externen Einflüssen wie Beratern, Medien, Sponsoren und mehr. Der DFB wird Anstöße geben und tut das auch schon. Um etwas zu verändern, müssen aber viele Beteiligte auf ein Ziel hinarbeiten.
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Würden Sie sich wünschen, dass Vereine im Nachwuchsbereich weniger Talente aus dem Ausland holen und vermehrt in deutsche Perspektivspieler investieren?
Kuntz: Ja, natürlich. Ich würde mir auch wünschen, dass sich die Perspektivspieler und Talente in den entscheidenden Jahren für die größtmögliche Chance auf Einsatzzeiten entscheiden. Dazu gehört allerdings auch, in schwierigen Zeiten der Karriere Widerstandsfähigkeit zu entwickeln und nicht den einfachen Weg eines weiteren Vereinswechsels zu suchen.
Inwiefern fehlt den jungen Kickern der nötige Respekt oder der Schuss Demut?
Kuntz: Fußballer sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Da gibt es alle möglichen Kategorien, so dass es schwer ist, zu pauschalisieren. Aber es gibt sicherlich Möglichkeiten, Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung zu nehmen, die kontraproduktiv für gewisse Werte sind. Hier setzen wir in den wenigen Wochen, in denen wir in den U-Mannschaften mit den Spielern zusammen sind, an, gerade was die Vermittlung von Werten und Tugenden angeht.
Müssen auch die U-Trainer und die Trainerausbildung an sich hinterfragt werden?
Kuntz: Beim DFB und in den Vereinen ist das Thema angekommen, und es gibt viele Fachleute, die sich darüber austauschen. Wir verändern auch ständig Stellschrauben. Die Wirkung auf das ganze System ist nur nicht umgehend zu sehen. Aktuell sind wir der Überzeugung, dass es mal wieder an der Zeit ist, etwas größere Veränderungen herbeizuführen. Ich stehe dazu auch mit Daniel Niedzkowski aus meinem Trainerteam, gleichzeitig zuständig für die Trainerausbildung, in Kontakt. Eine Idee ist, mit Lizenzspielern noch während ihrer aktiven Karriere Zukunftsbilder zu entwickeln, um sie früh für den Trainerjob zu begeistern. Dazu möchten wir auch die Rolle des Jugendtrainers als Talententwickler wieder mehr in den Vordergrund stellen.
Interview: Manuel Bonke