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Ergibt Olympia ohne Zuschauer überhaupt Sinn? „Geist der Spiele ad absurdum geführt“

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Trotz Corona finden die Olympischen Spiele in Tokio 2021 statt. Allerdings ohne Zuschauer. Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, sieht diese Entscheidung kritisch.

Die Olympischen Spiele (23. Juli bis 8. August) finden in Tokio ohne Zuschauer statt. Aber sie finden statt. Die tz sprach mit Dagmar Freitag (68/SPD), Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, über das IOC und die Spiele in Zeiten der Pandemie.

Der Ärzteverband Tokio sprach sich für eine Olympia-Absage aus. Auch Umfragen in der Bevölkerung zeigen die Skepsis. Trotzdem werden die Spiele nun durchgezogen. Die falsche Entscheidung?

Freitag: Zehntausende Menschen aus allen Kontinenten werden nach Tokio einfliegen, und das in Zeiten, in den immer mehr Mutationen des Coronavirus bekannt werden. Die Infektionszahlen in Tokio steigen; Premierminister Suga hat für die Stadt den Corona-Notstand ausgerufen. Derselbe Premierminister steht aber unerschütterlich an der Seite von IOC-Präsident Bach; beide werden diese Spiele durchziehen. Und ich glaube, man darf anfügen, um jeden Preis.

Was meinen Sie?

Freitag: Wir alle wissen aus den Erfahrungen der letzten Monate, dass diese vielgerühmten Hygiene-Blasen löchrig sind und ein wirklich sicheres Hygienekonzept kaum realisierbar sein dürfte. Vielleicht hätte man die Corona-Pandemie auch und gerade im internationalen Sport als Auszeit sehen und die Möglichkeit der Reflexion über Fehlentwicklungen und Missstände nutzen sollen. Dagegen stehen aber offensichtlich die wirtschaftlichen Interessen des IOC und der Ausrichter. Die aktuellen Überlegungen, gänzlich auf Zuschauer zu verzichten, sind unter Pandemie-Gesichtspunkten wenigstens ein vernünftiger Ansatz.

Wird der Sinn von Olympia nicht ein Stück weit verfehlt, wenn es eine Veranstaltung ohne ausländische Zuschauer und Helfer wird?

Freitag: Es ähnelt einem Konzert ohne Gäste, das nur online übertragen wird. Dass damit die besondere Atmosphäre und der ursprüngliche Geist Olympischer und Paralympischer Spiele völlig ad absurdum geführt wird, dürfte jedem klar sein. Gerade die Begegnungen der Volunteers aus aller Welt sind ein Wert an sich – neben der für viele Athlet:innen ja einmaligen Erfahrung des Zusammentreffens im Olympischen Dorf mit seinem ganz besonderen Flair.

SPD-Politikerin Dagmar Freitag über Olympia
Ergibt Olympia ohne Zuschauer Sinn? - Die SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Freitag zweifelt an der Entscheidung in Tokio. © dpa/Fabian Strauch

Es ähnelt einem Konzert ohne Gäste, das nur online übertragen wird. Dass damit die besondere Atmosphäre und der ursprüngliche Geist Olympischer und Paralympischer Spiele völlig ad absurdum geführt wird, dürfte jedem klar sein. 

Dagmar Freitag (68/SPD), Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag

Olympia 2021 in Tokio: Wenig Mitspracherecht für Athleten und Athletinnen beim IOC

Von den Athletensprechern gab es die Klage, dass die Mitbestimmung rund um die Planung nur sehr gering war. Wofür braucht es Athletensprecher, wenn das IOC entscheidet?

Freitag: Athleten und Athletinnen haben nicht nur, aber insbesondere im IOC nach wie vor einen schweren Stand, mit ihren Forderungen durchzudringen. Allerdings zeigt die Entwicklung, dass mit der Gründung eigenständiger und unabhängiger Athletenvertretungen, wie z. B. Athleten Deutschland e.V., eine weltweit immer stärker werdende selbstbewusste Bewegung in Gang kommt, die zunehmend Druck auf die Entscheidungsstrukturen internationaler Verbände ausübt und erste Erfolge verzeichnen kann.

Sind Sie zuversichtlich, dass das IOC künftig stärker auf die Wünsche der Sportler eingeht und nicht nur an die eigenen Interessen denkt?

Freitag: Noch sehe ich keine wirkliche Einsicht. Das hat aber auch damit zu tun, dass die IOC-eigene Athletenvertretung noch nie durch eigenständige oder gar revolutionäre Vorschläge aufgefallen ist. Aber im 21. Jahrhundert und den heutigen Möglichkeiten der schnellen weltweiten Vernetzung sollte es den Athlet:innen gelingen, sich als meinungsstarke und durchsetzungsfähige Stakeholder des Sportsystems zu organisieren.

Thomas Bach ist als IOC-Präsident umstritten. Wie beurteilen Sie sein Auftreten in den letzten Jahren?

Freitag: Bach hat aus meiner Sicht seine Gefolgsleute im exklusiven Zirkel der sportpolitischen Macht dank eines zugegebenermaßen ausgesprochen erfolgreich entwickelten Geschäftsmodells der Olympischen Spiele zu treuen Unterstützern gemacht. Das hat sich zuletzt bei seiner Wiederwahl aus meiner Sicht in geradezu schon bizarren Beifallsadressen gezeigt. Zugleich hat er, um es zurückhaltend auszudrücken, eine bemerkenswerte Nachsicht gegenüber Russland gezeigt, das bekanntlich in unglaublicher Weise Antidoping-Regeln unterlaufen hat. Und das, obwohl Russland bis heute keinerlei Einsicht oder gar Reue über einen in der Geschichte Olympischer und Paralympischer Spiele in dieser Dimension nie dagewesenen Betrug zeigt.

Hinzu kommt seine aus meiner Sicht unkritische Nähe zu Machthabern autokratischer Staaten. Dass Sportgroßveranstaltungen in solchen Staaten zu spürbaren und nachhaltigen gesellschaftspolitischen Verbesserungen führen würden, wird immer wieder gerne als Argument für solche Entscheidungen angeführt. Ich sehe aber nicht, dass sich beispielsweise in China seit den Spielen 2008 demokratische Strukturen, Presse- und Meinungsfreiheit und die Achtung der Menschenrechte sowie die Achtung von Minderheiten zum Vorteil entwickelt hätten, ganz im Gegenteil.

Olympia ohne Zuschauer: Vor den Olympischen Spielen in Tokio
Die Olympischen Sommerspiele werden in Tokio ohne Publikum stattfinden. © dpa/Stanislav Kogiku

Olympia 2021 ohne Zuschauer: Proteste und politische Meinungsäußerungen erstmals für Sportler erlaubt

Die Olympische Charta verbietet bislang, dass sich Sportler während der Spiele politisch äußern und demonstrieren. Eine Regel, die hinfällig ist?

Freitag: Ich glaube, es muss Athleten erlaubt sein, überall auf der Welt für universelle Menschenrechte einzutreten. Das ist Ausdruck gesellschaftspolitischen Engagements, wie es jedem Menschen zusteht. Die Exekutive des IOC hat sich auf Vorschlag der IOC-Athletenkommission nun entschlossen, Proteste und politische Meinungsäußerungen in Tokio eingeschränkt zu gestatten, sofern diese „im Einklang mit den Grundprinzipien der Olympischen Bewegung stehen“. Ein nur auf den ersten Blick erfreulicher Schritt, nur: Die Deutungshoheit bleibt beim IOC.

Auch beim Deutschen Olympischen Sportbund gibt es aktuell viel Knatsch. Präsident Alfons Hörmann wurde zu harter Führungsstil vorgeworfen. Er gibt sein Amt im Dezember ab. Wäre ein sofortiger Rücktritt nicht das Beste gewesen?

Freitag: Das wäre aus meiner Sicht nach diesem vernichtenden Urteil der hauseigenen Ethikkommission die sauberste Lösung gewesen. Mindestens hätte ich erwartet, dass Herr Hörmann sein Amt ruhen lässt. Ich finde es schon erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit ein derart in die Kritik geratener Präsident gemeinsam mit seinem Präsidium ‚business as usual‘ macht und auch selbstverständlich die Delegationsleitung für die deutsche Olympiamannschaft für sich in Anspruch nimmt.

(Interview: Nico-Marius Schmitz)*tz.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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