Harting: "Ein normaler Mensch würde zerbrechen"

München - Robert Harting ist amtierender Welt- und Europameister. In London will er Olympiagold. Im tz-Interview spricht der 27-Jährige über seine Emotionen und eigene Erwartungen.
Herr Harting, holen Sie in London die Goldmedaille?
Harting: Es wäre cool, innerhalb von 365 Tagen die drei größten Titel in meinen Händen zu halten. Wer weiß, wann so eine Situation wieder kommt und ob das jemand nachmachen könnte.
Sie wollten sich im Training pro Woche um 50 Zentimeter steigern, um in London einen 70-Meter-Wurf rauszuknallen.
Harting: Natürlich kann ich nicht automatisch im Schnitt 50 Zentimeter weiter werfen. Aber im Wettkampf habe ich eine höhere Adrenalinkurve und bin im Kampfmodus. Um es mit einer kriegerischen Metapher auszudrücken: Im Training bin ich ein Burgschütze, im Wettkampf geht’s ans Eingemachte, in den Nahkampf.
Nahezu jeder in Deutschland erwartet von Ihnen den Titel. Fluch oder Segen?
Harting: Ich weiß, dass viele die Goldmedaille erwarten. Ich finde das ziemlich beschämend an unserer Gesellschaft. Sobald man einen Wert schafft, verpflichtet dieser einen sofort. Ich kann das leisten, aber diese Emotionen im Zaum zu halten, ist schwierig. Ich bin wie Wasser, das bei 99 Grad ständig am Kochen ist und nicht versiedet. Ich versuche, den Deckel drauf zu halten, damit nichts raus kommt.
Klingt nach viel Druck!
Harting: Sie können sich das gar nicht vorstellen, ein normaler Menschen würde daran vermutlich zerbrechen. Das hält man nur aus, wenn man dieser Situation über Jahre ausgesetzt ist und eine höhere Intensität verarbeiten kann. In so einem Moment entlädt sich massiv viel.
Auch Sie hatten in der Vergangenheit damit zu kämpfen.
Harting: Früher hat mich das körperlich und geistig kaputt gemacht. Ich hab mich daran verbrannt, das hat viel Energie gekostet. Der Weg zurück führte nur über den Sport, ich habe Ereignisse geschaffen, die schön waren. Zudem hab’ ich mir öfter etwas gegönnt. Ich war früher ein sehr geiziger Mensch, hab mir viel verboten. Meine eigenen Erwartungen waren immer sehr hoch. Und das sind sie immer noch, aber das Schlückchen, das das Fass zum Überlaufen bringt, kann ich jetzt vorher gerade noch abtrinken. Das ist die Kunst: Sich weiterzutreiben, dabei aber nicht zu zerstören.
Wie lange sind Sie noch bereit dieses Opfer zu bringen?
Harting: Mir braucht keiner erzählen, was zehn Stunden Arbeit bedeutet. Ich habe viele kleine Geldgeber, denen ich sehr dankbar bin, aber meine Pflichten werden nicht geringer. Das kostet sehr viel Kraft. Das heißt nicht, dass ich meine Karriere beende, aber vielleicht ziehe ich mich irgendwann noch weiter zurück.
Sie meinen, das Verhältnis zwischen Arbeit und Vertrag stimmt nicht?
Harting: Worüber ich nachdenke, ist zum Beispiel die Wirtschaftlichkeit eines möglichen Olympiasiegs. Meiner Meinung nach ist sie nicht gewährleistet. Die vielen Einschnitte rechnen sich nicht. Ich muss mein Privatleben vollkommen aufgeben, ohne Vorsorge betreiben und genug Geld verdienen zu können.
Wie hoch ist die Prämie eines deutschen Olympiasiegers?
Harting: Der Verband hält sich schändlich, man bekommt 15 000 Euro brutto. In Thailand sind es bis zu 150 000. Slowenien und Kroatien 60 000. Es geht mir nicht nur um Geld oder Profit, sondern darum, dass die Verhältnismäßigkeit und der Ausgleich zum betriebenen Aufwand stimmt.
Interview: Mathias Müller