Der tiefe Fall eines Tennis-Wunderkinds aus Deutschland: „Ich fuhr betrunken zum Match“

Er hatte wohl die Anlagen, zum Tennis-Superstar zu werden - doch ein Deutscher stürzte auf seinem Karriereweg heftig ab. Jetzt packte er offenbar anonym aus.
München - Der 16. Juli 2023 steht für immer in den Tennis-Geschichtsbüchern: Novak Djokovic, der König von Wimbledon, wurde entthront. Der erst 20-jährige Spanier Carlos Alcaraz besiegte ihn im Finale des altehrwürdigen Turniers mit einer atemberaubenden Leistung und holte sich nach der Weltranglistenspitze auch den prestigeträchtigen Wimbledon-Pokal. Ob auch ein einstiges Tennis-Wunderkind je in diese Kreise vorgerückt wäre? Auf die Center Courts dieser Welt? Oder zumindest unter die Top 200 der ATP-Rangliste? Es kam jedenfalls anders.
Tennis: Angebliches Wunderkind packt anonym bei Reddit aus
Die Geschichte eines gefallenen Talents erzählte jetzt ein Nutzer bei Reddit, und zwar wohl seine eigene. „Ich galt als das größte Talent seit Boris Becker“, schrieb er und rief die Nutzer dazu auf, ihn alles zu fragen, was sie wissen möchten. Im Rahmen von einem der sogenannten „AMA“-Threads auf dem Internetportal. Zu deren Natur gehört auch, dass die Menschen dort anonym auspacken. Und ihre Identität in der Regel nicht bestätigt ist. Was der Mann schreibt, klingt allerdings zu echt, präzise und detailreich, um ausgedacht zu sein. Daher ist - bei aller angebrachten Restskepsis - mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er wahrheitsgemäß seine eigene Lebensgeschichte erzählt. Die vom tiefen Absturz eines Tennis-Wunderkinds. Bei Reddit nennt er sich „Racket_Abuser“, wir geben ihm in der Folge den komplett fiktiven Namen Frank Kustler.
Mit persönlichen Angaben hält sich der Nutzer zurück, um nicht identifizierbar zu sein. Es ist aber über sein Alter immerhin zu erfahren, dass er inzwischen in den 30ern angekommen ist. „Bis zu meinem 17. Lebensjahr galt ich als eines der größten Talente weltweit und war bis vor meinem Absturz mehrere Jahre unter den Top 10 der Junioren-Weltrangliste“, schreibt er. Bis die Wende kam. „Es war nie wirklich mein Traum, und ich habe recht früh eine gewisse Angst vor Niederlagen entwickelt. Als ich dann im Herrenbereich Fuß fassen sollte, hab ich mich stattdessen immer mehr in Partys/Alkohol geflüchtet.“
„Der Tag bestand fast vollständig aus Tennis“
Er komme aus einer Tennisspielerfamilie, erinnert sich Kustler, sein Vater habe ihn zwar nie unter Druck setzen wollen, sich aber sogar noch mehr Fokus auf den Sport gewünscht. „Ich kannte nichts anderes. Freunde mussten sich hinten anstellen, Schule musste sich gewissermaßen hinten anstellen und der Tag bestand fast vollständig aus Tennis. Morgens vor der Schule Sport, dann Schule, dann direkt zum Training, während der Autofahrt essen, trainieren, Kondi/Fitness und irgendwann abends oder zwischendurch Hausaufgaben. Dann kam eine Sportschule dazu, die speziell für Leistungssportler aller Arten ist, sodass man noch mehr Zeit hatte für Tennis. Da hatte ich wenig Zeit, nach links und rechts zu schauen.“ Zumal die Begeisterung fürs Tennis bei ihm immer größer geworden sei. „Am Anfang wurde es auf mich geschoben, später habe ich es geliebt“, schreibt Kustler.
Je mehr es nach oben ging, desto größer wurde der Zwiespalt. Die Angst sei „schon recht früh“ gekommen. „Ich hab mich regelmäßig vor Matches übergeben müssen, hab viel über körperliche Beschwerden gejammert ... einfach aus Angst zu verlieren. Das ging lange gut, weil ich die Matches ja trotzdem gewonnen habe und man durchaus auch mal gegen bessere Spieler verlieren darf. Aber je mehr es in Richtung Herrentennis ging, desto mehr wurde mir bewusst, dass es das Einzige ist, was ich habe. Dass ich viele Menschen enttäusche, wenn ich verliere, weil diese Menschen viel für mich opfern. Sowohl Zeit, als auch Geld, etc.“
Er sei ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr mit seinen Eltern, sondern mit Coach oder Fitnesstrainer zu Auslandsturnieren gereist. „Und irgendwann kam dann eben der Alkohol, der mir meine Auszeiten von der Situation gegeben hat. Natürlich immer dann, wenn Coach nicht zugeguckt hat. Und darunter sind die Leistungen immer schwächer geworden.“ Bis der große Tiefschlag gekommen sei: Alkohol und körperliche Probleme sorgten seinen Angaben zufolge dafür, dass es nicht mehr weiterging. Kustler fuhr demnach sogar betrunken zu einem Tennisspiel. „Irgendwann dann der Befreiungsschlag, als ich betrunken zum Match gefahren bin und mit Herzrhythmusstörungen aufgeben musste. Da hat mein Vater dann die Reißleine gezogen.“
„Es ging einfach irgendwann nicht mehr weiter“
Die Angst sei einfach immer größer geworden: „Es ging einfach irgendwann nicht mehr weiter. Sobald ich Nachrichten bekommen habe, dass ich mich mit irgendeinem Sponsor, Journalisten, etc unterhalten soll, sind immer mehr die Lampen ausgegangen. Musste teilweise vor solchen Gesprächen schon Alkohol trinken, damit ich das überhaupt hinbekomme. Die Gespräche waren nie schlimm, aber in meiner Vorstellung wurde ich dabei immer zerrissen, musste unangenehme Fragen beantworten.“
Eine Frage bleibt natürlich: „Was wäre, wenn ich voll durchgezogen hätte?“ Mit purer Disziplin und ohne Rückschläge, die durch seine Angst, durch mangelnde Disziplin und durch körperliche Beschwerden ausgelöst wurden? Kustler hätte „gerne gewusst, wie es am Ende ausgegangen wär.“ Das Leben, das er heute lebe, macht ihn dennoch glücklich: „Aktuell bin ich einigermaßen zufrieden. Frau, Kind, kurz vor Vollendung des Medizinstudiums“, schildert er. Er sei „mit Abstand einer der ältesten im Semester“, beende das Studium dann mit fast 40.
„‘Du warst das größte Talent, was ich je trainiert habe‘ höre ich noch heute und es fühlt sich furchtbar an“
Ein bisschen hat er wohl seinen Frieden gemacht mit der versäumten Tennis-Karriere, aber eben nicht komplett. Das liegt daran, dass er seine Fähigkeiten genauso wenig vergessen hat wie sein Umfeld. „‘Du warst das größte Talent, was ich je trainiert habe‘ höre ich noch heute und es fühlt sich furchtbar an“, schreibt er. Die Nutzer ziehen den Hut vor seinen klaren Worten. Und machen ihm Mut. „Ich hoffe, du wirst ein formidabler Arzt“, schreibt einer. „Wenn man danach mal eben das Zeug zum Arzt hat, dann kann man sich auf beide Schultern klopfen, top“ ein weiterer. Und ein dritter: „Viel Erfolg mit deiner zweiten Karriere als Arzt. Ich denke, nüchtern betrachtet ist das auch die bessere Karriere und man tut dabei sogar Gutes.“ Bleibt zu hoffen, dass in einem Leben voller Tiefen und Höhen künftig nur noch Höhen folgen bei ihm. Wenn seine Geschichte mit allen Details denn echt ist - woran Restzweifel bleiben, was aber sehr wahrscheinlich ist. Bei Reddit hat auch eine angebliche Rewe-Mitarbeiterin ausgepackt, warum sie lieber zu Aldi und Lidl geht. (lin)