Fachkräftemangel: Ökonom fordert Ende der Rente mit 63
Die Rente mit 63 ist beliebt, aber teuer. Angesichts des Arbeitskräftemangels wächst die Kritik - und die Forderung, das umstrittene Modell zu Grabe zu tragen.
München - Im Kampf gegen den steigenden Arbeitskräftemangel hat der Arbeitsmarktexperte Oliver Stettes vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) einen Verzicht auf Vorruhestandsregelungen gefordert. „Mehrere Brücken zur Frührente müssten eingerissen werden“, sagte Stettes am Montag bei einer Veranstaltung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) in München. Die Betriebe müssten sich frühzeitig darüber Gedanken machen, wie sie ältere Arbeitnehmer im Unternehmen halten können.

Bevor man über die Rente mit 70 diskutiere, müsse die Rente mit 67 umgesetzt werden, sagte vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt. Derzeit liege das Eintrittsalter in den Ruhestand bei etwa 64 Jahren bei Männern, bei Frauen noch etwas niedriger. Stettes hält es für einen Fehler, dass die Hinzuverdienstgrenzen für Rentner mit 63 Jahren weggefallen sind. Der Ausfall durch den früheren Ruhestand sei leicht durch einen 50-Prozent-Job auszugleichen. Der Wirtschaft gehe aber eine halbe Arbeitskraft verloren.
Deutschland muss für ausländische Arbeitskräfte attraktiver werden
Es sei zudem nötig, dass Deutschland und Bayern als Einwanderungsland attraktiver werden, sagte Stettes. „Die kommen nicht alle von alleine hierhin“, sagte Stettes. Im Moment kommt ein großer Teil der ausländischen Arbeiter aus anderen EU Ländern. In Zukunft wird es auch im EU-Ausland zu Arbeitskräftemangel kommen. Um Arbeitskräfte aus Drittländern anzuwerben, schlägt Experte Stettes vor:
- Fachkräfte und potenzielle Auszubildende/Studierende gezielt ansprechen.
- Sprachangebote im Ausland fördern, um Sprachkenntnisse von Fachkräften zu verbessern.
- Die Erwerbsmigration durch ein Punktesystem erleichtern.
- Bürokratische Prozesse bei Visa-Vergabe und Anerkennungsverfahren zu beschleunigen. Heißt: Kürzere Warte- und schnellere Bearbeitungszeiten.
DGB lehnt höheres Renteneintrittsalter ab
Der bayerische DGB-Vorsitzende Bernhard Stiedl wies hingegen die Forderung nach einer längeren Lebensarbeitszeit zurück. Viele schafften es nicht, bis 65 Jahre oder länger zu arbeiten. „Im rentennahen Alter nimmt der Anteil eines Jahrgangs, der noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, beständig ab“, sagte er. Im Jahr 2021 seien nur 14,3 Prozent der 65-Jährigen derart beschäftigt gewesen, noch geringer sei die Vollzeitquote. „Die Rente mit 67 ist unter diesen Gegebenheiten nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm.“
Fachkräftemangel in vielen Branchen
In Deutschland fehlen Arbeitskräfte in so gut wie allen Branchen. Sie fehlen jetzt und werden in Zukunft fehlen. „Nichtstun ist keine Option!“, ist sich Wirtschaftswissenschaftler Oliver Stettes sicher.
Besonders hoch ist die Nachfrage im Bereich „Gesundheit, Soziales, Lehre/Erziehung“ sowie „Bau, Architektur, Vermessung-/Gebäudetechnik“. Hier konnten im dritten Quartal 2022, 60 Prozent der offenen Stellen nicht besetzt werden, weil qualifiziertes Personal fehlte. Das besagen Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Instituts für Arbeitsmarkt (IAB).
Fachkräftemangel: 22 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung fehlen
Die nackten Zahlen sind bedrohlich: Die sogenannte Fachkräftelücke lag im Zeitraum von Juli 2021 bis Juli 2022 im Durchschnitt bei 537.923 offenen Stellen. Sie konnten nicht besetzt werden, weil Arbeitskräfte mit den gefragten Qualifikationen fehlen. Das besagen Zahlen des IW. Die Tendenz in den kommenden Jahren ist steigend.
Das deutsche Medianeinkommen beträgt 3516 Euro, brutto, im Monat. Medianeinkommen heißt: 50 Prozent der Deutschen bekommen mehr, 50 Prozent bekommen weniger, als 42.192 Euro im Jahr. Das heißt, der deutschen Wirtschaft gehen im Jahr rund 22,7 Milliarden Euro Wirtschaftskraft verloren. Dem Staat entgehen die Steuerzahlungen, dieser unbesetzten Stellen. Auch in die Rentenkasse wird nicht eingezahlt.
Die drei D‘s: Deswegen fehlen in Deutschland qualifizierte Arbeitskräfte
Für den Arbeits- und Fachkräftemangel gäbe es drei Hauptgründe, sagt Arbeitsmarktexperte Oliver Stettes vom IW Köln: Die drei D‘s.
- Dekarbonisierung
- Digitalisierung
- Demografie
Dekarbonisierung und Digitalisierung gehen Hand in Hand, stellt Stettes fest: „Ohne Digitalisierung gelingt keine nachhaltige ökologische Transformation.“ Der Kampf der deutschen Wirtschaft, den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern und letztendlich den Klimawandel zu bekämpfen, könne nur mit einer erfolgreichen Digitalisierung gelingen. Die Angst, dass durch die Digitalisierung massenhaft Jobs verloren gehen, hält Stettes für nicht begründet: Durch die Digitalisierung sei „kein systematischer Abbau von Arbeitsplätzen zu erkennen, aber Veränderungen bei beruflichen Anforderungen zu erwarten.“
Die Bevölkerung Deutschlands wird immer älter. Das bedeutet, dass „eine kleiner werdende Zahl von Erwerbstätigen, die Einkommen einer größer werdenden nicht arbeitenden Bevölkerung erwirtschaften muss“, erklärt Stettes. Gesamtwirtschaftlich bedeutet das, „dass Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft, Innovationskraft und Transformationsfähigkeit abnimmt.“ (rowa mit dpa)